Assessor jur. Thomas Zimmermanns
BVerfG schränkt Meinungsfreiheit
" für
Abtreibungsgegner erheblich ein
- Der Vorwurf, rechtswidrige
Abtreibungen vorzunehmen, wurde höchstrichterlich untersagt -
Mit
Kammerbeschluss des 1. Senats vom 24.05.2006
hat das BVerfG zwei Verfassungsbe-schwerden eines
Abtreibungsgegners gegen Urteile und Beschlüsse von Zivilgerichten
zurückgewiesen, in denen er zur Unterlassung von
Flugblattäußerungen verurteilt worden war. In diesen Flugblättern
hatte er die Öffentlichkeit darüber informiert, daß ein namentlich
benannter Frauenarzt in seiner Praxis
rechtswidrige
Abtreibungen vornehme.
Die erstgenannte der beiden
Verfassungsbeschwerden richtete sich gegen
Gerichtsentscheidungen im Verfahren der einstweiligen Verfügung
sowie gegen das erstinstanzliche Urteil im Hauptsacheverfahren.
Sie wurden mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dass
es dem Beschwerdeführer zumutbar gewesen sei, den Rechtsweg im
Hauptsacheverfahren auszuschöpfen.
Die zweite Verfassungsbeschwerde
wurde als unbegründet zurückgewiesen. Als Ausgangspunkt der
rechtlichen Bewertung deutete das BVerfG diese Äußerung als
Vorwurf strafbaren Handelns gegenüber dem Frauenarzt. Es ließ
dabei offen, ob diese Äußerung als Tatsachenbehauptung oder als
Meinungsäußerung anzusehen sei.
Als Tatsachenbehauptung
sei sie unwahr, da
der angegriffene Frauenarzt seine Abtreibungstätigkeit nicht in
strafbarer Weise, sondern im Rahmen des geltenden Rechts ausübe.
Aber auch als
Meinungsäußerung sei sie unzulässig,
da sie eine Anprangerung des
angegriffenen Frauenarztes darstelle, bei der in Abwägung aller
Umstände des konkreten Falles dem Persönlichkeitsrecht des
Frauenarztes der Vorrang gegenüber der Meinungsfreiheit des
Beschwerdeführers einzuräumen sei.
1.
Schon
gegen die Zurückweisung der ersten Verfassungsbeschwerde als
unzulässig beste-hen erhebliche rechtliche Bedenken:
Entgegen der Ansicht des
BVerfG stand § 90 Abs. 2 S.1 BVerfGG ihrer Zulässigkeit nicht
entgegen. Zwar war hier der Rechtsweg lediglich im Verfahren der
einstweiligen Verfü-gung erschöpft und noch nicht der Rechtsweg im
Hauptsacheverfahren. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann dies
in solchen Fällen jedoch nicht stets verlangt werden. Hängt die
Entscheidung von keiner weiteren tatsächlichen Aufklärung ab und
liegen die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 S.2 BVerfGG vor, so ist
die Verfassungsbeschwerde auch ohne Erschöpfung des Rechtsweges in
der Hauptsache zulässig.
So liegt es hier: Der
Sachverhalt als solcher ist unstreitig; es ging lediglich um
dessen (verfassungs-rechtliche Bewertung. Ferner wäre dem
Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil
entstanden, wenn er zunächst auf den weiteren Rechtsweg im
Hauptsacheverfahren verwiesen worden wäre. Schwere Nachteile sind
z.B. besonders in-tensive Grundrechtseingriffe.
Ein solcher Eingriff lag hier vor, da dem Beschwerdeführer unter
Androhung eines hohen Zwangsgeldes untersagt wurde, Abtreibungen
in personen-bezogener Form als ”rechtswidrig” zu bezeichnen. Es
handelt sich hier um eine Äußerung in einer politisch und
gesellschaftlich äußerst umstrittenen Frage, in der es um den
Schutz des höchsten verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgutes,
nämlich des menschlichen Lebens, geht. Würde der Beschwerdeführer
insoweit auf die Erschöpfung des Rechtswegs im Hauptsacheverfahren
verwiesen, so wäre er für den erheblichen Zeitraum bis zu einer
Entscheidung des BGH an der Geltendmachung seiner Rechte und an
dieser für die öf-fentliche Meinungsbildung bedeutsamen
Meinungsäußerung gehindert.
Dementsprechend hat das BVerfG in vergleichbaren
Fällen die Verfassungsbeschwerde auch ohne Er-schöpfung des
Rechtsweges in der Hauptsache für zulässig erklärt.
Alllerdings
ist die gegenteilige Entscheidung des BVerfG im vorliegenden Fall
durchaus konsequent, da das Gericht ja in der Sache selbst eine
Verletzung von Grundrechten des Beschwerdeführers verneinte.
2.
Ausgangspunkt der Begründung der Zurückweisung der zweiten
Verfassungsbeschwerde ist die erstmals im ”Stolpe-Beschluss”
vertretene
Auffassung des BVerfG, wonach bei mehrdeutigen Äußerungen die dem
Äußernden ungünstigste Deutungsalternative zugrun-de zu legen sei,
sofern lediglich Unterlassung der Äußerung begehrt wird; bei
Klagen auf Widerruf oder Geldentschädigung sowie in einem
Strafverfahren sei hingegen weiterhin von der für den Äußernden
günstigsten Auslegung der Äußerung auszugehen.
Die ”un-günstigste” Deutungsvariante sei diejenige, die eine
Persönlichkeitsverletzung bewirkt oder, wenn dies bei mehreren
Deutungsvarianten der Fall ist, zu der schwereren
Persön-lichkeitsverletzung führt.
Im ”Stolpe-Beschluss” bezog das BVerfG diesen
Rechtsgrund-satz auf Tatsachenbehauptungen; inzwischen erstreckt
es ihn auch auf Meinungsäußerun-gen.
Ob
und inwieweit diesem neuen Rechtsgrundsatz des BVerfG zuzustimmen
ist, mag zweifelhaft erscheinen. Es ist offensichtlich, dass mit
der Feststellung des Inhalts einer Äuße-rung die Weichen für deren
rechtliche Beurteilung gestellt werden. Auf der einen Seite wird
man sicherlich im Interesse des Ehren- und Persönlichkeitsschutzes
argumentieren können, dass es der Äußernde in der Hand habe, seine
Ausdrucksweise so eindeutig zu ge-stalten, dass keine Deutung
möglich ist, aus denen sich die Behauptung einer ehrverlet-zenden
unwahren Tatsache oder die Äußerung eines ehrverletzenden
Werturteils ergibt. Auf der anderen Seite kann dieser Grundsatz zu
einer erheblichen Verkürzung der Mei-nungsfreiheit führen,
besonders dann, wenn die Gerichte in einem unangemessen
weitrei-chenden Umfang von einer ”mehrdeutigen Aussage” ausgehen
oder wenn die ”für den Äußernden ungünstigste Deutung” einen
Inhalt gewinnt, die vom Äußernden weder beab-sichtigt war noch in
seiner Äußerung objektiv zum Ausdruck gebracht wurde. So wie das
BVerfG und die Obergerichte in der Vergangenheit zahlreiche
ehrverletzende Äußerungen verharmlosend interpretiert haben,
so besteht nun die Gefahr, dass sie Äußerungen einen
verschärften und ehrverletzenden Sinn beilegen und mit dieser
Begründung untersagen.
Auf
jeden Fall hat diese neue Rechtsprechung des BVerfG zur
Konsequenz, dass sämtli-che Äußerungen, die deshalb mit
Unterlassungsurteil untersagt wurden, weil das Gericht die für den
Äußernden ungünstigte Deutungsmöglichkeit zugrunde gelegt hat,
insgesamt verboten sind. Denn auch wenn eine strafrechtliche
Verurteilung des Äußernden oder eine zivilrechtliche Verurteilung
zum Widerruf oder zur Zahlung einer Geldentschädigung in diesen
Fällen nicht möglich ist, weil insoweit die dem Äußernden
günstigste Deutungs-möglichkeit seiner Äußerung zugrunde zu legen
ist, so bewirken doch die mit einem Un-terlassungsurteil
verbundenen Sanktionen (regelmäßig bis zu 250.000 € Ordnungsgeld
für den Fall der Zuwiderhandlung!) eine generelle Unterlassung der
Wiederholung der inkri-minierten Äußerung. Ein
Unterlassungsprozess kann dem Verurteilten in Anbetracht der in
solchen Fällen häufig festgesetzten hohen Streitwerte auch
finanziell wesentlich teurer zu stehen kommen als eine
strafrechtliche Verurteilung!
Das BVerfG ging im
vorliegenden Fall davon aus, dass die Äußerung, wonach die in der
Praxis des namentlich genannten Frauenarztes vorgenommenen
Abtreibungen ”rechtswid-rig” seien, mehrdeutig sei. Abzustellen
sei für die Ermittlung des Inhalts einer Äußerung auf das
Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums.
Dieses könne den Vorwurf der Rechtswidrigkeit hier
im rechtstechnischen Sinne verstehen, aber auch als Vorwurf
gesetzeswidrigen und damit strafbaren Handelns. Wenn also die dem
Äußernden ungünstigste Deutungsmöglichkeit zugrunde zu legen sei,
so sei dies folglich der Vorwurf strafbaren Handelns.
3.
Diese
Auslegung der hier in Rede stehenden Äußerung ist entschieden
abzulehnen:
Es trifft nicht zu, dass
die Äußerung des Beschwerdeführers mehrdeutig gewesen sei. Denn
bei der Ermittlung des Inhalts einer Äußerung ist nach ständiger
Rechtsprechung des BVerfG zwar von ihrem Wortlaut auszugehen, doch
müsse auch der sprachliche Kon-text der Äußerung und deren
Begleitumstände in die Auslegung einbezogen werden.
Hieraus folgt, dass sich aus dem Kontext des gesamten
Flugblatttextes eindeutig ergibt, dass der Beschwerdeführer gerade
nicht erklären will, dass die in der betreffenden Arzt-praxis
vorgenommenen Abtreibungen strafbar sind. Vielmehr bringt er darin
seine Kritik und seinen Protest darüber zum Ausdruck, dass sie
nach geltender Gesetzeslage nicht strafbar sind, obwohl sie aus
ethischen und rechtlichen Gründen strafwürdig seien. Außer-dem
nimmt er in dem Text des Flugblattes ausdrücklich Bezug auf die
Rechtsprechung des BVerfG, das in seinem Grundsatzurteil vom
28.05.1993 alle Abtreibungen, bei denen keine Indikation oder nur
die (nach damaligem Recht geltende) soziale Indikation vor-liegt,
”rechtswidrig” (wenn auch straflos) seien, da sie von der
Rechtsordnung nicht an-erkannt werden können und dass der
Gesetzgeber dies bei der Neufassung der §§ 218 ff. StGB
ausdrücklich zum Ausdruck bringen müsse, sei es im StGB, sei es in
anderen Ge-setzen.
Der Beschwerdeführer bringt auch deutlich zum Ausdruck, dass er
den Vorwurf rechtswidrigen Handelns in diesem Sinne versteht.
Somit ergibt sich aus dem Kontext der Äußerung eindeutig, dass der
Vorwurf der Rechtswidrigkeit ausschließlich in diesem Sin-ne
gemeint ist und auch von einem ”verständigen und
unvoreingenommenen” Publikum nicht anders verstanden werden kann.
Eine Heranziehung dieses Kontextes bei der Aus-legung dieser
Äußerung fehlt in der Entscheidung des BVerfG jedoch völlig; das
Gericht geht lediglich von den mehreren isoliert betrachtet
möglichen Bedeutungen des Begriffes ”rechtswidrig” aus und wählt
dann aus diesen als Grundlage für die Abwägung zwischen
Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit die für den
Beschwerdeführer ungünstigste aus. Damit wird der Inhalt der
Äußerung in ungerechtfertigter Weise zulasten des Äußern-den
verschärft und die Anforderungen an den Gebrauch des Grundrechts
der Meinungs-freiheit werden in einer Weise überspannt, dass eine
einschüchternde Wirkung entsteht,
die doch nach bisheriger ständiger Rechtsprechung des BVerfG in
der politischen und ge-sellschaftlichen Auseinandersetzung
unbedingt vermieden werden solle,
da anderenfalls die Gefahr einer Lähmung und Verengung des
Meinungsbildungsprozesses drohe.
Somit wäre als
Ausgangspunkt der rechtlichen Würdigung festzuhalten, dass hier in
Wahrheit gar keine mehrdeutige, sondern eine eindeutige Äußerung
vorliegt, und zwar ei-ne Bewertung der Abtreibungen als
”rechtswidrig” im Sinne des Urteils des BVerfG vom 28.05.1993.
Unter diesen Voraussetzungen handelt es sich um ein sachlich
zutreffendes Werturteil (keine Tatsachenbehauptung, s.u. 4.),
das zweifelsfrei durch Art. 5 Abs. 1 GG gerechtfertigt ist und
auch unter dem Gesichtspunkt der ”Prangerwirkung” oder der
”Anprangerung” nicht untersagt werden kann,
was später noch näher begründet wird.
4.
Der
nächste Einwand muss sich dagegen richten, dass das BVerfG es
offenließ, ob es sich bei der Bewertung der Abtreibungen als
”rechtswidrig” um eine Tatsachenbehauptung oder um eine
Meinungsäußerung handelt.
a)
Das
Gericht begründete dies damit, dass dieses Vorgehen zulässig sei,
wenn eine Äußerung sowohl wertende Elemente als auch
Tatsachenaussagen enthält und nicht ein-deutig sei, ob der
Tatsachengehalt oder das Werturteil überwiegt und wenn die
rechtli-che Beurteilung bei beiden Annahmen gleich ausfiele.
b)
Als
Tatsachenbehauptung sei diese unwahr, da die Tätigkeit des
angegriffenen Frau-enarztes nicht strafbar sei, sondern erlaubt,
da sie unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen durchgeführt
werde. Unwahre Tatsachenbehauptungen wiederum seien nicht durch
Art. 5 Abs. 1 GG geschützt.
c)
Bei
der Bewertung eines Verhaltens als ”rechtswidrig”, ”strafbar” o.ä.
handelt es sich jedoch in den meisten Fällen um ein Werturteil und
nicht um eine Tatsachenbehaup-tung. Denn hiermit wird in der Regel
nur eine ganz überwiegend auf Wertung beru-hende subjektive
Beurteilung zum Ausdruck gebracht.
So hat der Beschwerdeführer auch hier lediglich seine persönliche
Auffassung hinsichtlich der rechtlichen Bewer-tung der in der
betreffenden Arztpraxis vorgenommenen Abtreibungen zum Ausdruck
gebracht und sich zur Rechtfertigung und Begründung der
Richtigkeit und Angemes-senheit dieser Bewertung auf die
identische Beurteilung durch das BVerfG gestützt. Die Einstufung
derartiger Bewertungen als Tatsachenbehauptung kommt nur dann in
Betracht, wenn diese Bewertung nicht als Rechtsauffassung
kenntlich gemacht wird, sondern bei dem Adressaten zugleich die
Vorstellung von konkreten in die Wertung eingekleideten Vorgängen
hervorruft, die als solche einer Überprüfung mit den Mit-teln des
Beweises zugänglich sind.
Dies ist hier jedoch nicht geschehen. Der Be-schwerdeführer hat
nicht auf bestimmte Tatsachen Bezug genommen, aus denen sich die
Rechtswidrigkeit der Abtreibungen ergebe, sondern lediglich auf
die Rechtsprechung des BVerfG als einer weiteren, die eigene
Bewertung stützende Rechtsauffassung.
Im
Übrigen waren nach bisheriger Rechtsprechung des BVerfG Äußerungen
im Zwei-fel als bloße Meinungsäußerungen anzusehen, da diese in
stärkerem Maße durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt sind als
Tatsachenbehauptungen.
Aber
selbst wenn man die in Rede stehende Äußerung als
Tatsachenbehauptung ansä-he, so wäre diese bei richtiger Auslegung
nicht unwahr, sondern wahr. Denn sie ist nach dem zuvor Gesagten
eben nicht als Vorwurf der Strafbarkeit auszulegen, sondern im
rechtstechnischen Sinne entsprechend dem Verständnis des BVerfG in
seinem Ur-teil vom 28.05.1993.
d)
Nach
Ansicht des BVerfG sei die Äußerung jedoch selbst dann unzulässig,
wenn man sie (richtigerweise) als Meinungsäußerung ansieht. Dies
muss bereits deshalb erstau-nen, da das BVerfG in ständiger
Rechtsprechung seit 1958 im Hinblick auf die Bedeu-tung des für
eine freiheitlich-demokratische Grundordnung schlechthin
konstitutiven Grundrechts der Meinungsfreiheit von einer Vermutung
der Zulässigkeit der Äuße-rung ausgeht.
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit wolle auch gewährleisten, dass
jeder frei sagen kann, was er denkt, auch wenn er für sein Urteil
keine nachprüfbaren Gründe angibt oder angeben kann.
Ebenso wenig komme es darauf an, ob die Äuße-rung als wertvoll
oder als wertlos, als richtig oder als falsch, als begründet oder
als grundlos, als gerecht oder als ungerecht bewertet wird.
Auch Zeit, Ort und sonstige Umstände der
Meinungsäußerung sind von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt.
Von vornhe-rein unzulässig sind nur Äußerungen, die eine
Verletzung der Menschenwürde, Schmähkritik oder Formalbeleidigung
bedeuten (was das BVerfG hier mit Recht gar nicht erst in Erwägung
zieht). Ist dies nicht der Fall, so müsse zwar eine Abwägung
zwischen den widerstreitenden Rechten der Meinungsfreiheit auf der
einen und dem Persönlichkeitsrecht auf der anderen Seite
stattfinden. Jedoch gilt im Rahmen dieser Abwägung der Grundsatz
der Vermutung für die Zulässigkeit der Meinungsäußerung (s.o.).
Eine Abweichung von der Vermutung der Zulässigkeit der freien Rede
bedürfe einer Begründung, die der konstitutiven Bedeutung der
Meinungsfreiheit für die De-mokratie, in der die Vermutungsregel
wurzelt, Rechnung trägt.
An einer solchen Be-gründung fehlt es hier und eine solche wäre
auch schwer denkbar, denn wenn man von dieser konstitutiven
Bedeutung der Meinungsfreiheit ausgeht, noch dazu in einer
ge-sellschaftspolitischen Auseinandersetzung, in der es um den
Schutz des höchsten Rechtsguts, das menschliche Leben, geht, so
sind keinerlei Umstände ersichtlich, die es im vorliegenden Fall
gebieten könnten, die Meinungsfreiheit hinter dem
Persönlich-keitsrecht des Angegriffenen zurücktreten zu lassen,
selbst dann, wenn man die Äuße-rung zu Unrecht als Vorwurf
strafbaren Verhaltens interpretiert.
Die oben dargestell-ten Grundsätze der
Rechtsprechung des BVerfG führen im vorliegenden Fall nämlich zu
dem Ergebnis, dass es hiernach für die Zulässigkeit der – als
Vorwurf strafbaren Verhaltens verstandenen – Äußerung weder darauf
ankommt, ob sie sich für den Be-troffenen ehrmindernd auswirkt
noch darauf, ob dieser Vorwurf sachlich (etwa anhand der
Gesetzeslage) berechtigt und begründet ist oder nicht.
Ebenso wenig konnte es hiernach darauf ankommen, dass ein
einzelner namentlich benannter Frauenarzt ange-griffen wurde und
dass die Flugblätter in der Nähe seiner Praxis verteilt wurden.
5.
Nach
bisheriger Rechtsprechung konnte eine Äußerung – und zwar selbst
eine wahre Tat-sachenbehauptung – allerdings dann unzulässig sein,
wenn sie nach Form oder Inhalt eine Prangerwirkung entfaltete.
Eine solche Prangerwirkung wurde dann angenommen, wenn eine
Einzelperson angegriffen wurde und die Äußerung zu einer
Stigmatisierung des Be-troffenen und damit zu einer nachhaltigen
Beeinträchtigung seiner Persönlichkeitsentfal-tung führen kann,
wenn die Aussage zum Anknüpfungspunkt sozialer Ausgrenzung und
Isolierung wird bzw. wenn die Folgen für den Betroffenen in keinem
Verhältnis zu dem mit der Äußerung angestrebten Zweck stehen.
Eine solche Prangerwirkung hatte der BGH hinsichtlich der hier in
Rede stehenden Äußerung angenommen.
Es ist nun aber in keiner Weise ersichtlich,
inwiefern der Frauenarzt durch die Äußerung, er nehme in seiner
Praxis rechtswidrige Abtreibungen vor, mit ”Stigmatisierung” oder
”sozialer Ausgrenzung” rechnen müsste oder sonstige Folgen
eintreten, die in keinem Verhältnis zu dem mit der Äußerung
angestrebten Zweck ständen. Auch der BGH begründete in seinen
Entschei-dungen nicht näher, inwiefern dies der Fall sei.
Das
BVerfG stellt nun in seiner Begründung auch nicht auf solche
Folgen ab, sondern erweitert den Begriff der Prangerwirkung
dadurch, dass es bereits dann eine Prangerwir-kung oder eine
”Anprangerung” annimmt, wenn ein allgemeines Sachanliegen durch
iden-tifizierende Herausstellung einer Einzelperson und damit
durch Personalisierung eines als negativ empfundenen Geschehens
verdeutlicht werden soll.
Die Äußerung sei in solchen Fällen zwar nicht stets
unzulässig, jedoch sei in solchen Fällen eine Abwägung zwischen
dem Persönlichkeitsrecht des Angeprangerten und dem Grundrecht der
Meinungsfreiheit des Äußernden vorzunehmen. Diese Abwägung ergebe
hier aus folgenden Gründen einen Vorrang des
Persönlichkeitsrechts:
-
Ein einzelner
Frauenarzt wurde aus einer Vielzahl von Ärzten herausgegriffen
und gezielt angegriffen, wofür dieser dem Beschwerdeführer
keinen Anlass gegeben habe,
-
Die Flugblätter wurden
in unmittelbarer Nähe seiner Praxis verteilt und darin sein
vol-ler Name und seine (Praxis-Anschrift genannt,
-
Die Schwere des
Angriffs, die in dem ungerechtfertigten Vorwurf strafbaren und
nicht nur ethisch verwerflichen Verhaltens liegt. Dies könne
gravierende Beeinträchtigun-gen für den Betroffenen mit sich
bringen.
6.
Auch
diese Argumentation des BVerfG muss schwerwiegenden Bedenken
begegnen:
a)
Weder
das Gesetz (Art. 5 Abs. 1 und 2 GG; §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB usw.)
noch die (bisherige) Rechtsprechung des BVerfG unterscheiden
hinsichtlich der Voraussetzun-gen der Zulässigkeit einer Äußerung,
ob eine Einzelperson (sei es namentlich oder un-ter einer
Kollektivbezeichnung), eine Gruppe von Personen oder ein sonstiges
Kollek-tiv (Partei, Verein, Behörde usw.) angegriffen wird. Es
gelten in allen Fällen die glei-chen Voraussetzungen für die
Zulässigkeit von Tatsachenbehauptungen und Mei-nungsäußerungen wie
unter 4.d) dargestellt. Dementsprechend hat das BVerfG
scharfe und in das Persönlichkeitsrecht eingreifende Äußerungen in
zahlreichen Entscheidun-gen auch dann zugelassen, wenn sich diese
gegen namentlich benannte Einzelperso-nen richteten.
Zumeist wurde hierbei eine Prangerwirkung oder
Anprangerung gar nicht erst erörtert; in einigen Fällen wurde sie
zwar erörtert, ihr Vorliegen jedoch im Ergebnis verneint.
Das Vorliegen einer
Prangerwirkung stellte nach bisheriger Rechtsprechung eine
Aus-nahme dar, deren Voraussetzungen (soziale Ausgrenzung und
Stigmatisierung des Be-troffenen oder schwerwiegende Auswirkungen
auf seine persönliche Integrität) nur in sehr seltenen Fällen
gegeben waren. Eine enge Auslegung des Begriffes ”Prangerwir-kung”
war und ist auch erforderlich, weil deren Vorliegen ja selbst bis
hin zum Verbot wahrer Tatsachenbehauptungen führen kann und damit
eklatant in das Grundrecht der Meinungsfreiheit eingreift.
Dementsprechend ist für eine Ausweitung der Vorausset-zungen der
Prangerwirkung oder für eine Rechtsfigur der ”Anprangerung” von
Vorn-herein kein Raum, da dies bis hin zur Aushebelung des
gesamten Grundrechts der Meinungsfreiheit führen kann. Es kann
auch nicht jede mögliche Beeinträchtigung des Ansehens, der
öffentlichen Wirksamkeit oder des Geschäftsbetriebes des
Betroffenen eine Prangerwirkung begründen, denn dann wären nur
noch solche kritischen Äuße-rungen zulässig, die im Wesentlichen
wirkungslos bleiben. Mit der Konstruktion der ”Anprangerung”, die
im Falle ihres Vorliegens eine gleichrangige Abwägung zwi-schen
den widerstreitenden Rechtsgüter erforderlich mache, bricht das
BVerfG auch mit der Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede
in all den Fällen, in denen sich eine scharfe Meinungsäußerung in
der Öffentlichkeit gegen namentlich benannte Ein-zelpersonen
richtet. Es entsteht aufgrund dieser neuen Rechtsprechung eine
höchst un-befriedigende Rechtsunsicherheit, da nun kaum noch
vorauszusehen ist, in welchen Fällen und aufgrund welcher
Gesichtspunkte die Gerichte der Meinungsfreiheit und in welchen
sie dem Persönlichkeitsrecht den Vorrang geben. Eine solche
Rechtsunsicher-heit wird – nicht zuletzt im Hinblick auf die mit
einer Unterlassungsklage verbunde-nen erheblichen finanziellen
Risiken – dazu führen, dass die Bereitschaft, vom Grund-recht der
Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen, in der Gesellschaft (oder
womöglich nur bei bestimmten Gruppen?) abnimmt. Selbst das Wissen
des Äußernden, dass die von ihm behaupteten Tatsachen unstreitig
oder erwiesermaßen wahr sind, vermag ihm dann nicht die Gewissheit
zu geben, dass seine Äußerung nicht doch wegen einer an-geblichen
Prangerwirkung untersagt wird. Diese Folgen aber stehen im
Widerspruch zur konstitutiven Bedeutung dieses Grundrechts, die ja
gerade vom BVerfG stets her-vorgehoben wurde.
b)
Aber
auch die Gesichtspunkte, aufgrund das BVerfG im vorliegenden Fall
im Rahmen seiner konkreten Abwägung zu einem Vorrang des
Persönlichkeitsrechts des Frauen-arztes gelangt, überzeugen
verfassungsrechtlich in keiner Weise:
-
Die Tatsache, dass der
Frauenarzt als Einzelperson angegriffen wurde und sein Name und
seine Praxisanschrift in den Flugblättern genannt wurden,
begründet ja gerade erst, dass überhaupt eine ”Anprangerung”
vorliegt und ist damit Voraussetzung, dass eine gleichrangige
Abwägung der widerstreitenden Interessen (also ohne eine
Vermu-tung zugunsten der freien Rede) zu erfolgen hat. Die die
Anprangerung begründenden Umstände können somit im Rahmen dieser
Abwägung also nicht nochmals zu seinen Gunsten berücksichtigt
werden.
-
Es trifft ferner nicht
zu, dass sich der Beschwerdeführer nur gegen den in diesem Fall
betroffenen Frauenarzt gewandt hat. Es ist bekannt, dass er mit
entsprechenden Mei-nungsäußerungen und Flugblattaktionen
bundesweit gegen eine ganze Anzahl von Frauenärzten vorgegangen
ist, die in ihren Praxen oder in Kliniken Abtreibungen
vor-nehmen. Im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 GG sollte es hierauf
allerdings in keiner Weise ankommen, da jeder Bürger frei ist zu
entscheiden, gegen welche oder wieviele von mehreren in einer
bestimmten Angelegenheit Verantwortlichen er sich äußern will.
-
Im Übrigen trifft es –
jedenfalls unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtspre-chung
des BVerfG – nicht zu, dass der Frauenarzt dem Beschwerdeführer
keinen An-lass zu seiner Äußerung gegeben habe. Zunächst einmal
ist festzustellen, dass das Thema ”Abtreibung” auch heute noch
politisch und ethisch umstritten ist, sodass je-der, der
Abtreibungen vornimmt, Abtreibungsgegnern bereits dadurch Anlass
zu ent-sprechenden Meinungsäußerungen gibt. Ferner ist der
Frauenarzt mit dem Angebot der Durchführung von Abtreibungen in
die Öffentlichkeit getreten und muss gegen sein Verhalten
gerichtete Meinungsäußerungen auch aus diesem Grunde
grundsätzlich hinnehmen.
-
Die Tatsache, dass der
Frauenarzt nicht in seiner Privatsphäre, sondern lediglich in
seiner beruflichen Sphäre angegriffen wurde, wurde – anders als
in vergleichbaren Fällen
– in keiner Weise zugunsten des Äußernden berücksichtigt.
-
Was nun die angebliche
Schwere des Angriffs betrifft, so wird diese nach dem zuvor
Dargelegten nur aus einer fehlgeleitenen und mit Art. 5 Abs. 1
GG nicht zu vereinba-renden Interpretation der strittigen
Äußerung hergeleitet. Aber selbst wenn man in ihr tatsächlich
den Vorwurf strafbaren Handelns sehen wollte, so würde es sich
dabei nicht um einen so schwer wiegenden Vorwurf handeln, dass
dies für eine Unzuläs-sigkeit der Äußerung sprechen würde.
Inwiefern die Äußerung konkret geeignet gewe-sen sei,
”gravierende Beeinträchtigungen” für den Frauenarzt mit sich zu
bringen, wird vom BVerfG nicht weiter begründet. Wenn das
Gericht dabei ausführt, dass die Tatsache (das die Strafbarkeit
begründende Verhalten), auf die das Werturteil (die Be-hauptung
der Strafbarkeit) gestützt werde, unwahr sei und dass auch dies
in die Abwä-gung einzubeziehen sei, so geht dies fehl. Die
Tatsache, dass der betreffende Frauen-arzt Abtreibungen
vornimmt, ist unstreitig wahr und nur die daraus von dem
Be-schwerdeführer (angeblich) gezogene rechtliche
Schlussfolgerung, dass dieses Verhal-ten strafbar sei, ist
unzutreffend. Sieht man diese rechtliche Schlussfolgerung
zutref-fend als Werturteil an, so liegt eine unwahre
Tatsachenbehauptung an keiner Stelle vor.
-
Die Gründe, die dafür
sprechen, dass der Beschwerdeführer seine Meinung in der von ihm
gewählten Weise kundgetan hat, wurden bei der Abwägung in keiner
Weise be-rücksichtigt. Diese Gründe bestehen vor allem darin,
dass er sein Anliegen dadurch besonders wirksam machen wollte,
dass er gleichsam ”vor Ort” auf das Unrecht der Abtreibung und
darauf aufmerksam machen wollte, dass auch das BVerfG diese als
”rechtswidrig” ansieht. Ferner wollte er durch die
Personalisierung eines der für Ab-treibungen verantwortlichen
Ärzte diesen aus der Anonymität reißen, was nach unse-rer
Rechtsordnung nicht verboten ist.
Hierbei
sei anzumerken, dass der Beschwerdeführer nach der bisherigen
Rechtspre- chung einer solchen Rechtfertigung überhaupt nicht
bedurft hätte, da es sich um eine Meinungsäußerung in einer die
Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelte und eine
Prangerwirkung im bisherigen engen Sinne ihres Verständnisses
nicht vorliegt.
7.
Der
Schwerpunkt der Kritik an dem Beschluss des BVerfG muss sich
zweifellos gegen die Interpretation des Vorwurfs der
Rechtswidrigkeit als Vorwurf der Strafbarkeit sowie gegen die
Ausdehnung des Begriffs der Prangerwirkung und die daraus
abgeleiteten Rechtsfolgen richten. Diese Beschlüsse haben zur
Folge, dass es Abtreibungsgegnern un-möglich gemacht wird, in der
Öffentlichkeit gegenüber einzelnen namentlich benannten Ärzten,
die Abtreibungen vornehmen, auf die Rechtsprechung des BVerfG
hinzuweisen und Abtreibungen als ”rechtswidrig” zu bewerten. Das
ist ein erheblicher Eingriff in die Meinungsfreiheit, der um so
schwerer wiegt, als es den Abtreibungsgegnern hierbei um den
Schutz des nach unserer Verfassung höchsten Rechtsgutes, nämlich
des menschlichen Lebens, geht. Auch dies wurde in dem Beschluss in
keiner Weise gewürdigt. ”Einen gro-ßen Teil der Rechtsprechung zur
Meinungsäußerungsfreiheit von Abtreibungsgegnern kann und muss man
ohne Polemik so kommentieren, dass deren Äußerungen nach ande-ren
Grundsätzen beurteilt werden als die Äußerungen anderer
gesellschaftlicher Gruppen, wie z.B. Pazifisten, Gewerkschaften,
Umwelt-, Natur- und Tierschützer”.
Es bleibt den
Lebensrechtlern in Deutschland nur noch die Hoffnung, daß der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesen Beschluss wegen
Verletzung der auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK) in Art. 10 Abs. 1 garantierten Meinungsfreiheit auf die
bereits erhobene Beschwerde hin aufheben wird.
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